Gestern abend habe ich das kleine Büchlein »Müdigkeitsgesellschaft – Burnoutgesellschaft – Hoch-Zeit« von Byun-Chul Han zu Ende gelesen. Endlich. Mehr als eine Woche für 100 Seiten. Mein Mann fragte mich »Und, bist Du jetzt schlauer?« Was bin ich nach diesem Buch? Aufgerüttelt, verwirrt, entsetzt, enttäuscht und auch ent-täuscht, nachdenklich, bestätigt, traurig. Sollte ich es kürzer machen: Ich bin am Verdauen.
Schwere Kost diese 100 Seiten. Anfangs habe ich mich wie der Schule gefühlt: ich musste tatsächlich das eine oder andere Fremdwort oder einen griechischen Gott nachschlagen. Und zugegeben: ich hatte das Buch vor ein paar Wochen entnervt wieder weggelegt, weil ich nicht in den Lesefluss kam. Beim zweiten Anlauf klappte es mit Han und mir dann von Anfang an besser. Der Autor beschreibt (am Anfang empfand ich das Buch als sperrig, bleiben Sie dran!) die Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft von einer Disziplinargesellschaft mit dem Imperativ „Du sollst“ hin zu einer Leistungsgesellschaft mit „Du kannst“. Und dies immerwährende „Du kannst“ – mit dem impliziten „Du kannst alles erreichen, wenn Du Dich genug anstrengst und es auch wirklich willst“ bringt uns in die freiwillige Selbstausbeutung, in den Burnout mit möglicher Depression als Folge. Burnout sei das Ergebnis der „absoluten Konkurrenz“: Wir kämpfen gegen uns selbst, und bevor wir innerpsychische Widersprüche anerkennen und auflösen, nehmen wir lieber Medikamente. Das geht schneller. Yes, we can. Und so werden wir immer erschöpfter, weil wir verlernen, Nein zu sagen, Konflikte auszutragen und sogenannte „Zwischen-Zeiten“ nicht mehr zulassen – zum Reflektieren, Zögern, und neu nachdenken. Wir sind hyperaktiv, bewegen uns aber nicht, wir sind nicht mehr Herr unser Selbst, kein Kutscher hat die Zügel mehr in der Hand, wir befinden uns im „rasenden Stillstand.“
Ich muss sagen, dass ich zum Teil beim Lesen dachte: Nein, also so schlimm ist es doch wirklich nicht. Und doch. Beim Nachdenken über die einzelnen Textpassagen nickte ich dann doch mal mehr, mal weniger. Prägnant zeigt Han auf, dass wir hyperaktiv sind, die Langeweile als Inspirationsquelle verlernen und viel zu sehr unser Sein vernachlässigen. Einfach mal sein, ohne etwas zu tun. Und sehr kurz und knapp, dafür für mich umso eindrücklicher kritisiert er die sozialen Medien als Kanal der Selbstdarstellung: „Die Freunde in den sozialen Netzwerken haben vor allem die Funktion, das narzisstische Selbstgefühl zu steigern. Sie bilden eine applaudierende Masse, die dem wie eine Ware ausgestellten Ego Aufmerksamkeit schenkt.“ Da ist was dran. Wir leben in einem virtuellen Warenhaus, in dem jeder sich selbst verkauft und auf der Suche nach Käufern ist.
Was bleibt bei mir als Fazit vom Buch, was ist bis jetzt hängen geblieben? Grundsätzlich habe ich den Blick über den Tellerrand der sonstigen Wirtschafts- und Psychologie-Literatur sehr genossen. Auszeiten und Zwischen-Zeiten, das ist eine Wochenend- und Urlaubsgestaltung, die ich sowieso schon gerne mag, darin wurde ich bestärkt. Manche Überaktiven sehe ich nun in einem anderen, kritischeren Licht. Meine intuitive Abneigung gegen den Selbstoptimierungswahn und die Tschaka-Mentalität hat sich rational bestätigt. Die „Facebook-Mentalität“ und das alles, auch ich als Person, zur Ware werde – da erlaube ich mir noch ein wenig drüber nachzudenken. Dies ist sicherlich ein wunder Punkt, bei dem ich ambivalent bin. Wie möchte ich diese Kanäle nutzen? Bis wohin macht es mir Spaß? Und ab wann verstopfe ich mit meiner „sozialen Netzwerk-Kommunikation“ zu sehr die Kanäle und mache mit beim Beschleunigungsspiel? Ich werde sehen. Und letztlich hat mich das Buch in meinem Tun bestätigt: Zwischen-Zeiten/Auszeiten zu unterstützen, für den kritisch-konstruktiven Dialog im Selbst und mit anderen Impulse zu geben und letztlich die Souveränität, die Autonomie, die Selbststeuerungskompetenz zu steigern.