Zuhören, Angst & angstfrei sein: persönliche Beobachtungen 

Das Buch „Die angstfreie Organisation“ von Amy C. Edmondson haben mir schon viele empfohlen. Vor ein paar Wochen habe ich es nun endlich gelesen. Ich mag die Struktur, die vielen wissenschaftlichen Quellen, die anschaulichen Beispiele aus Organisationen sowie die Empfehlungen. Ich habe es gern gelesen und empfehle es denjenigen, denen an guter Zusammenarbeit, Wirtschaftlichkeit und Innovationskraft in Teams gelegen ist und auch denjenigen, die meinen, dass Menschlichkeit in der Wirtschaftlichkeit wenig verloren hat. Sie werden durch das Buch (hoffentlich!) sensibilisiert. 

Und na klar, ich fühlte mich durchweg bestätigt, dass Zuhören laut der Autorin wichtig ist und eine wesentliche Voraussetzung und Kompetenz der Leitungskräfte für eine angstfreie Organisation sei: 

Stellen Sie sich vor, was man erreichen könnte, wenn es zur Norm würde, dass Mitarbeiter das Gefühl hätten, dass ihre Meinung am Arbeitsplatz zählt. Das bezeichne ich als angstfreie Organisation.

Amy C. Edmondson

Tatsächlich haben dieses Gefühl laut der renommierten Gallup-Studie aktuell nur 29% der Mitarbeitenden (in den USA, meine Anfrage an Gallup zu europäischen bzw. deutschen Zahlen wurde seit Mitte Februar nicht beantwortet). 

Angstfrei zuhören – was ist es für mich?

Persönlich frage ich mich nach der Lektüre: Was macht die Angst mit mir in Zuhörsituationen, wovor habe ich Angst, wenn ich zuhöre oder mir zugehört wird? Allein an dieser Reflexion merke ich, dass ich beim Zuhören mit vielen Unsicherheiten und Ängsten innerlich zu tun haben könnte – die Angst vor 

  • nicht weiter zu wissen: auf die Antwort nicht reagieren können, Erwartungen nicht erfüllen zu können 
  • eine blöde Frage zu stellen, eine Frage zu stellen, die vermeintlich nicht relevant ist oder zu wenig/zu viel ist 
  • Kontrollverlust in der Situation (von wem auch immer) – habe ich dann eine Antwort/Lösung? 
  • nicht dran zu kommen und selbst nicht gehört zu werden, nicht gefragt werden 
  • und vor allen Dingen: nicht gut genug zuzuhören 

Als Person, der zugehört wird, entdecke ich ebenfalls Unsicherheiten: 

  • ich werde nicht ernst genommen
  • ich werde ausgelacht 
  • ich werde eh nicht gehört, es wird auf mein Gesagtes nicht eingegangenich
  • werde nicht verstanden
  • es interessiert nicht, was ich sage 
  • es wird sofort als Blödsinn abgetan 

Wow – was ist es für ein gefühltes Risiko zuzuhören und gehört zu werden. Und wie schön ist es, wenn wir in einem Dialog spüren, dass wir ernst genommen werden? 

Produktiver und konstruktiver empfinde ich es „salutogen“ (also gesundheits- / ressourcenorientiert) nachzudenken, wann und wie ich mich angstfrei beim Zuhören fühle bzw. gefühlt habe, was es mir ermöglicht, angstfrei zuzuhören. Das merke ich daran, dass ich keine innere Agenda habe, keine Erwartungen an das Gespräch sondern dem Prozess des Gespräches und vor allen Dingen mir selbst als Zuhörerin vertraue. Ein Vertrauen, dass das Gespräch gut ist und gut wird, dass ich die „richtigen“ Fragen stelle. 

Retrospektiv sind es Gespräche und Situationen, bei denen ich 

  • sehr klar in meiner Haltung und Rolle für den Gesprächskontext war 
  • innerlich ruhig und entspannt bin, ich bin psychisch „nicht hungrig“, ich benötige gerade nichts und es ist in Ordnung und schön, Aufmerksamkeit zu geben
  •  der anderen Person vertraue, weil ich sie schon länger kenne und ich aus der Vergangenheit weiß, dass der Mensch sich auch für mich interessiert
  • mich sicher in der Beziehung fühle 
  • sehr interessiert und neugierig auf den/die Menschen bin 
  • mir vor dem Gespräch erlaube und bewusst entscheide, zuzuhören und möglichst präsent zu sein – und nicht mich unter Druck setze „die“ Lösung zu haben 
  • nichts erreichen will
  • dem Gespräch, der anderen Person vertraue oder wie Carl Rogers es mit „vertraue dem Prozess“ benannt hat. Es wird das passieren, was jeweils für die Beteiligten in Ordnung ist. 

Inner state und zuhören

Es ist ein vor allen Dingen ein innerer Prozess und eine Entscheidung, bevor überhaupt irgendetwas passiert – also der sogenannte „inner State“, die innere Haltung mit der ich da bin. Womit ich gedanklich wieder bei der Theorie U und dem blinden Fleck von Führung bin: Eine Haltung erkennen wir daran, was wir tun und wie wir Aufgaben und Gespräche führen. Doch vor allen erkennen wir eine Haltung daran, bevor wir irgendetwas tun. Also mit welcher Intention gehen wir unsere Aufgaben an? Was passiert, was ist, bevor irgendetwas ist und passiert? 

  • Wie gehe ich in ein Gespräch: bin ich (zutiefst) interessiert am anderen Menschen, seiner Sichtweise, seinen Ideen, Gedanken, Bedenken und sogar seinen Gefühlen? … oder ist es mir egal? 
  • Bin ich grundsätzlich offen für andere Sichtweisen oder nicht? 
  • Meine ich, dass meine Sichtweise die einzig richtige ist? 
  • Vertraue ich, dass mein Gesprächspartner eine gute Absicht hat oder/und ein Bedürfnis sich mir mitzuteilen 
  • oder habe ich Angst, dass mir meine Zeit gestohlen wird, Angst dass ich zu kurz komme oder etwas verliere? 

Es lohnt sich, sich diese Fragen immer mal wieder und vor allen Dingen vor wichtigen Gesprächen zu stellen. Denn je nach Situation, Kontext und Rolle verändern sich die Antworten. 

Mit Vertrauen oder Angst? 

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es zwei grundsätzliche Arten gibt, durch’s Leben zu gehen: mit Vertrauen oder mit Angst. Für mich passt das auch für Gespräche und zum Zuhören. 

Neben all der Reflexion möchte ich in Zukunft öfter mal eine Abkürzung nehmen, wie sie Amy C. Edmondson beschreibt: Sich in Situationen immer wieder fragen: 

Wie würde ich jetzt zuhören und agieren, wenn ich mir selbst sicher bin? Wenn ich mir und dem Gesprächsprozess vertraue? 

Wie ist es bei dir? Wann fühlst du dich angstfrei und sicher beim Zuhören? Und: wie kannst du Gespräche und Besprechungen beeinflussen, dass sie angstfreier sind? 

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