Es ist Samstag morgen. In Humfeld, einem kleinen Dorf im Lipperland, werde ich meinen zweiten Marathon in diesem Jahr laufen. Es ist das komplette Gegenprogramm zu meinen bisherigen Erfahrungen bei Laufevents: nur sehr wenige Starter, noch viel weniger Zuschauer doch dafür umso mehr Höhenmeter. Vor mir liegen 42 Kilometer mit viel Natur und vor allen Dingen viel Zeit mit mir selbst. Sehr bewusst habe ich mir diesen Lauf ausgesucht – ohne jegliche Bestzeitengefahr sondern mit dem vollen Fokus auf die Erfahrung und ja, den „Genuss“.
(10 Minuten vor dem Start, entspannt in the middle of nowhere …)
Unaufgeregt?!
Der Start fasst meine Vorbereitung zusammen: unaufgeregt. Mit einer kurzen Ansprache „Es ist nichts extra abgesperrt, also passt auf Autos auf und habt Spaß“ trabe ich mit ca. 60 anderen Verrückten los. Die Strecke ist anspruchsvoll: zweimal geht es „rund“. Zur Runde geht es knapp vier Kilometer hinauf. Das ist okay mit frischen Beinen und ich frage mich am Anfang, wie ich mich wohl ein paar Stunden später mit 800 Höhenmetern in den Knochen auf dem Rückweg fühlen werde?
Die 17 km Runde durch Wald und Feld begrüßt uns mit einem knackigen Anstieg, gefolgt von einer schönen Bergabpassage zum Laufen lassen. Zeit für einen Klönschnack mit einem Mitläufer. Ansonsten laufe ich mindestens 40 km allein und finde es großartig. Bewusst lasse ich es „vernünftig“ angehen. Denn ich kenne die Strecke nicht. Noch dazu möchte ich nicht wieder den Mann mit dem Hammer treffen wie in Rotterdam. Nach ca. 25 km merke ich die Hügel in meinen Beinen. Schön, wenn dann die zwei Verpflegungsposten sowie die einzige Zuschauerin (eine liebe Freundin von mir) an der Strecke extra eine La Ola-Welle für mich schmettern.
(Verpflegungsstände mit allem drum und dran – immer vor den nächsten 50 Höhenmetern)
Marathon: 30 km Anlauf und dann kommt die Wahrheit
Man sagt, ein Marathon beginnt so richtig ab Kilometer 30. Oh ja – und damit wir das an diesem Tag wirklich merken, ist speziell an dieser Stelle ein 3km-Anstieg mit durchschnittlich 5% und zum Teil 12%. War das in der ersten Runde auch schon so steil? Ich mache eine lange Geh- und Gelpause. Einen Schritt nach dem Anderen, einen Atemzug nach dem Anderen. Einfach weiter gehen. „Just keep on Running“ … „Go go go … figure it out … you can do this!” Der Song “Flames” von David Guetta begleitet mich in meinem Kopf.
Ich erinnere mich an all die guten Trainingsläufe und wie ich mehrmals Dinge zu Ende gebracht habe obwohl es anstrengend war. Doch das war alles nichts gegen das Lipperland! Und dann, als es in einem schönen Waldstück mal wieder so richtig hoch geht, frage ich mich: Was mache ich hier? Wozu? Ist Halbmarathon nicht auch cool? Ja, ein Halbmarathon ist auch toll. Doch ich mag genau da sein, wo ich jetzt bin: Außerhalb meiner Komfortzone, mitten in der Natur, konfrontiert mit mir selbst, meinen Ansprüchen und meiner tiefsten Motivation. Zusammen mit meinem Körper lernen und mich weiterentwickeln.
(Das Strecken- und Höhenprofil)
Welche Haltung hat meine Pacemakerin? Worauf laufe ich zu?
In dieser Phase kommen Grundgedanken auf:
- Wie will ich das Ding jetzt zu Ende laufen?
- Angenommen, die beste Version meiner Selbst läuft vor mir und zieht mich, ist mein „Pacemaker“, wie ist diese Person, welche Haltung hat sie?
- Läuft diese Person mit einem Leistungsgedanken, verbissen und verkrampft, kämpft um die Zeit und pusht ihren Körper? … oder …
- Läuft diese Person mit einem Grundgefühl von Liebe und Akzeptanz, ist dankbar, achtsam mit dem Körper, lächelt, akzeptiert die Schmerzen sowie die Anstiege und ist trotz aller Anstrengung irgendwie freudig dabei?
- Leistung oder Liebe? … das ist meine Grundfrage …
Einfach nur ankommen
Ich entscheide mich für die Pacemakerin „Liebe“. Auf Kampf und Krampf habe ich keine Lust. Statt dessen richte ich mich auch körperlich immer wieder bewusst auf, laufe mit dem Herzen nach vorne gebeugt, um Kraft zu sparen. Sauge die Natur, die klare Luft auf und bin meinem Körper sehr sehr dankbar, was er leistet. Es ist das körperlich Anstrengendste, was ich bisher gemacht habe. Meine Beine sind einfach nur schwer, zum Teil stolpere ich mehr als dass ich laufe. Ich rede mir beim letzten Anstieg gut zu und nach einer kurzen Cola-Pause bei km 38 geht es dann „nach Hause“ ins Ziel – bergab. Ich freue mich riesig, bin stolz und lasse es laufen – so hatte ich es mir immer wieder vorgestellt bzw. gefühlt. Die letzten Meter sind eine Qual, doch ein riesiges Lächeln ist noch drin.
(noch 200m …)
Ich bin angekommen! Nicht nur im Ziel nach diesem heftigen Marathon sondern auch wieder eine Spur mehr bei mir.
Fazit: die richtige „Haltung“ im Alltag finden – nicht nur beim Laufen
Liebe oder Leistung – diese zwei Pole finden sich auch in meiner professionellen Rolle. Und ja, ganz auf Leistung möchte ich nicht verzichten. Mein Ehrgeiz ist hilfreich. Doch ein zu hohes Streben danach verkrampft mich. In der Retroperspektive betrachtet, war und bin ich dann „erfolgreich“, wenn ich aus dem Herzen agiere. Das gibt mir Halt und Orientierung besonders in Situationen, die wenig vorhersehbar und unkontrollierbar erscheinen. Eine zugewandte, mitmenschliche Grundhaltung ist wirkungsvoller als jedes fachliche Training.
Und so frage ich mich nun auch im Joballtag:
- Wie, mit welcher Haltung möchte ich durch den Tag gehen?
- Angenommen, die beste (oder eine bessere) Version meiner Selbst geht ein paar Schritte voraus – wie ist diese Person, welche Haltung hat sie?
- Wie agiert sie zwischen den Polen Leistung und Liebe?
Wie es das bei Dir?
Ich wünsche Dir eine spannende Entdeckungsreise!
Herzlichst, Anke
Für die Laufinteressierten unter Euch:
Ich bin nach 4:21 ins Ziel gekommen (gesamt 19/62, gesamt 2. Frau). Die Halbmarathonmarke passierte ich nach 2:08 h. Gefühlt war ich auf der zweiten Runde deutlich langsamer, tatsächlich ist der Split für das Höhenprofil sehr in Ordnung.
In der Vorbereitung habe ich alle Hügel am Benther- und Gehrdener Berg mitgenommen sowie den Harzer Gebirgslauf (Halbmarathon). Insgesamt sammelten sich 7000 Höhenmeter sowie ca. 627 Trainingskilometer in der Vorbereitung seit August, bei drei Trainingseinheiten pro Woche. Dabei habe ich nur einen langen Lauf mit 31km und 500 Höhenmetern absolviert.
Nach einer etwas „schwummerigen“ Stunde direkt nach dem Lauf ging es mir sehr sehr gut, hatte sehr wenig Muskelkater und war am Dienstag direkt wieder laufen.
Fotos: privat von Melanie K.; Titelbild habe ich während eines Trainingslauf am Gehrdener Berg gemacht – nicht beim Marathon 😉
Durch Zufall bin ich auf deinen Laufbericht gestoßen. Höchste Identifikation! Wundervoll. Danke!
Sehr gerne! Falls du im Lipperland mitläufst wünsche ich dir viel Spaß!