„Wie gegen eine Wand!“ ist die Überschrift eines Presseberichtes zum Springe Deister Marathon. Und genauso fühlen sich die Hälfte der Kilometer bei meinem letzten Marathon an. Massiver Gegenwind auf den ersten vier Kilometern des 10km Rundkurses und dann auch noch bergan. Sturmböen mit bis zu 67km/h lese ich im Nachgang. Es war körperlich und mental super anstrengend. Und irgendwann mittendrin, zwischen Selbstmitleid und Selbstmotivation denke ich: mehr Resilienztraining geht nicht. Und wie groß der Unterschied mal wieder zwischen dem theoretischen Wissen und dem Anwenden ist.
Resilienz in der Theorie
Resilienz ist ein mittlerweile strapazierter und oft genutzter Begriff. Resilienz meint ursprünglich eine Widerstandsfähigkeit; der Begriff stammt aus der Physik. Übt man Druck auf ein Material aus und entwickelt es sich in den ursprünglichen Zustand zurück, ist dieses Material resilient. Im Kontext Selbstführung bedeutet Resilienz, mit Widerständen so umzugehen, dass sie einen Menschen möglichst wenig beindrucken. Eine resiliente Person erholt sich gut von Widerständen oder Rückschlägen, zum Beispiel in dem er die 7 Säulen der Resilienz anwendet: Optimismus, Realismus, Selbstbewusstsein, Gefühlsstabilität, Handlungskontrolle, Kontaktfreude und Analysestärke. Resiliente Menschen gehen also aktiv, selbstbewusst und realistisch an Herausforderungen statt impulsiv oder auch hilflos.

Kurz vor dem Start noch schnell ein Bild
Im Kontext meiner aktuellen Marathonvorbereitung ging ich optimistisch und selbstbewusst an den Start. Ich hatte konstant und stark trainiert. Meine Formkurve ging steil nach oben. Das Knie fühlt sich stabil an. Nach mehr als einem Dutzend erfolgreich gefinishten Marathons sowie zwei Ultraläufen kann ich mich gut einschätzen, weiß um die verschiedenen körperlichen und psychischen Phasen und kann mich gut steuern und ins Ziel bringen. Ich habe eine gute Handlungskontrolle. Ich bin realistisch und auch optimistisch: das wird gut, ich bin bestens vorbereitet, und im besten Fall laufe ich auf dem schwierigen Kurs unter vier Stunden. Ich habe viele mentale und emotionale Strategien im Kopf, in meinen Notizbüchern. Soweit die Theorie.
Resilienz im Belastungstest
Ganz realistisch weiß ich aber auch nach dem Einlaufen, dass der Wind massiv ist. Ich komme kaum vorwärts und hoffe einfach, dass ich mich einer Gruppe anschließen kann, wo wir uns Windschatten geben. Der Startschuss fällt, meine Beine fühlen sich gut an, trotz Gegenwind. Doch schon nach dem ersten Mal auf der Gegenwindpassage denke ich, „das wird lustig werden, noch dreimal hier hoch“. Nach der ersten Runde läuft es zwar noch sehr gut, doch der Wind hat mich Kraft gekostet. Es geht auf die zweite Runde, noch bin ich voll im Idealplan. Bis ich auf die Gegenwind-Passage abbiege und denke: Wieso? Wozu nochmal? Noch bin ich amüsiert und schüttel nur innerlich den Kopf. Stemme mich gegen den Wind, komme kaum vorwärts. Kein anderer Läufer weit und breit. Also was soll’s denke ich, dann gibt es jetzt schon Musik auf die Ohren. Das hatte ich erst für die letzten zehn Kilometer geplant. Es geht gegen den Wind berghoch. Mein Optimismus und auch mein Selbstbewusstsein sinken. Von Kilometer zu Kilometer. Was wollte ich mir nochmal innerlich sagen? Gefühlsstabilität? Resilienz? Was soll das bitte? Wie geht das nochmal? Im Kopf ist Leere, weggepustet. Ich denke ernsthaft daran, nach zwei Runden auszusteigen. Es ist kein muskuläres Problem und auch mein Knie ist erstaunlich zufrieden. Vielmehr ist es ein Gefühl, dass ist heute für mein Gesamtsystem nicht gut.

… der Heartbreak Hill … die Marathonies haben 4x das Vergnügen
Muss ich immer resilient sein?
Meine mentalen Techniken für den Marathon sind dahin. Da ist nichts mehr mit resilienten Strategien und Methoden, obwohl ich viele kenne. Ich spüre jetzt direkt, womit ich tatsächlich auch mit dem Resilienzkonzept hadere. Manche Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren sind zu krass, dass es zu viel verlangt ist, resilient zu sein. Sollte ich hier abbrechen, liegt es weniger an fehlenden Resilienzfaktoren meinerseits, sondern schlicht und einfach am Wetter. Der Resilienz-Begriff suggeriert manchmal, wir müssten alles aushalten. Wir müssen jeden Widerstand bewältigen. Und wenn dir das nicht schaffen, sind wir zu schwach. Das gehe ich so nicht mit. Schon gar nicht, wenn es um individuelle Resilienz im Organisationskontext geht. Die Rahmenbedingungen (z.B. Führungsstil, Umsetzung von Veränderungsprozessen) haben einen Einfluss auf die Resilienz und sollten mitgedacht werden. Statt die Verantwortung für die Resilienz nur beim Einzelnen zu belassen.
Inneres Umschalten von Resilienz zu Stimmigkeit
Nach gut 21 Kilometern komme ich das zweite Mal am Zielbereich vorbei. Mittlerweile bin ich meinem idealen Zeitplan mehr als fünf Minuten hinterher. Die Halbmarathonis sind vor fünf Minuten gestartet. In den letzten zwei Jahren war ich auch immer knapp hinter diesem Feld und bin auf Lauffreunde aufgelaufen, so dass wir die letzte Runde gemeinsam angehen. Ich denke, okay, ich steige jetzt hier aus. Bleibe bei den Getränken stehen, fülle meine Flasche auf. Und irgendwie gehe ich weiter und bin auf der dritten Runde. Und später auf der vierten Runde.
Ich schalte innerlich auf den Ultra-Marathon-Modus, akzeptiere, dass ich diese Bedingungen nicht kontrollieren kann. Ich frage mich mehr: wie kann es für mich möglichst stimmig werden? Das ist eine andere Ausrichtung – im Zusammenspiel mit den Rahmenbedingungen. Die Zeit wird mir egal. Das Mindestziel ins Ziel kommen, wird zum Hauptziel. Mein Mantra: Mach’s dir leicht und leichter. Also laufe ich bewusst langsamer. Mache Gehpausen. Trinke viel, esse brav meine Gels. Stemme mich weiter gegen den Wind. Schreie und motze lauthals. Lasse mich von Walkern am Anstieg überholen. Ist mir egal. Ich mache mein Ding, höre auf meinen Körper und mache langsam. Überhole dennoch auf der letzten Runde zehn andere. Stelle später fest, dass mehr als ein Drittel der Marathonstarter ausgestiegen sind. Kann ich verstehen.
Die Gedanken kommen und gehen – nicht.
Ab und zu freue ich mich, genieße es. Doch die meiste Zeit bin ich damit beschäftigt, mir die „Wozu mache ich das?“ Frage immer wieder zu beantworten. Mich immer wieder zu fragen „Wie geht es mir, wie schlimm ist der Schmerz?“ Auf einer Skala von 0-10 ist es nicht einmal über fünf. Also keine Panik. Und die Hauptfrage: „Was ist jetzt – wichtig?“ geht in Dauerschleife. Jetzt ist es okay, jetzt laufe ich. Jetzt scheint die Sonne. Jetzt ist ist es gut. Jetzt ist es gerade anstrengend. Jetzt habe ich gerade so gar keine Lust mehr.

… ich. mag. nicht. mehr. … Doch auf dieser Heartbreak Hill geht vorbei …
All diese aufkommenden Gedanken beobachte ich, kämpfe gegen sie an, ärgere mich, und schaffe es immer mal wieder einfach zu sagen: das ist okay, dass der Gedanke da ist. Es ist normal, dass es heute anstrengend ist. Doch ganz ehrlich: ich schimpfe selbst auf all dieses mentale Zeugs. Von wegen Prozess genießen. Ich pfeiff auf den Prozess, mag ihn auch grad gar nicht akzeptieren. Lauf einfach weiter, es wird vorbei gehen. Es gehört dazu.
Mit Mitgefühl ins Ziel
„Du hast es gleich geschafft, du hast das heute ganz toll gemacht!“ ruft mir die Streckenpostin bei Kilometer 38 zu, als ich mich bei ihr bedanke und für heute verabschiede. Stimmt denke ich. Das habe ich heute wirklich gut gemacht. Das habe ich mir viel zu wenig gesagt. So rolle ich die letzten vier Kilometer ins Ziel, nehme nochmal mein ursprüngliches Tempo auf, freue mich, dass ich ins Ziel komme. Freue mich, dass mein Knie gehalten hat, freue mich an mir, wie sehr ich schimpfen kann und was ich heute wieder alles gelernt habe. Bin mitfühlend mit mir und meinem inneren Kampf. Akzeptiere, dass ich so gekämpft habe und feier mich, dass ich den inneren Kampf gewonnen habe und mein Ego beiseite gelegt habe. Nach 4 Stunden und 24 Minuten bin ich im Ziel. Es ist absolut fein und stimmig für mich, obwohl ich 25 Minuten schneller laufen wollte. Was für eine absurde Erfahrung.
Was hat mich weitergehen bzw. laufen lassen? Ein Automatismus, ein nicht darüber nachdenken. Meine Erfahrung. Die Vermutung, wenn ich aussteige, werde ich mich sehr lange ärgern. Mein Mindestziel: Ankommen. Die Erinnerung, dass ich so lange nicht laufen konnte und alles darum gegeben hätte, mich so zu fühlen, am Rande des Läuferwahnsinns, am Rande der Komfortzone.
Gelernt und mitgenommen habe ich, dass all die Theorie schön und gut ist. Doch wenn es raschelig und stürmig wird, sollte sich die Theorie so einfach wie möglich darstellen. Ein Wort. Ein Gedanke, etwas, was so einfach ist, dass es mir auch im größten Stress einfällt. Und gefühlt und mitgenommen habe ich auch, dass es mit Mitgefühl besser läuft. Auch noch danach. Denn jetzt beim Schreiben merke ich, dass ich unbewusst sehr viele der sieben Säulen der Resilienz angewendet habe. In diesem Sinne nimm Abstand zu dir selbst, sei nicht so streng zu dir und schau einmal neutral und mitfühlend auf dich, was du in dieser Woche alles gut gemacht hast.

… und tada: ich bin tatsächlich dritte Frau geworden 🙂